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Interview von Zora del Buono, stellvertretender Chefredakteurin der Zeitschrift „Mare“, mit Thomas Leuner

del Buono: 1981 bis 1985. Ein halbes Jahrzehnt vor der Wende, Hochphase der Hausbesetzungen, eine kleine Gesellschaft, die sich – erst um den Stuttgarter Platz, dann um den Winterfeldplatz und schließlich in Kreuzberg – ein Leben nimmt, das die Mehrheit der Bundesrepublik missbilligt, ein autonomes Leben. So war das Selbstverständnis damals. Beim Betrachten des Bandes wird man beinahe sentimental: hermetische kleine Welt, in der wir lebten. Ist dein eigener Blick darauf ein sentimentaler?
Leuner: Ich glaube der Blick von mir ist eher nüchtern, aber mit einer Vorliebe, die Ereignisse zu dramatisieren. Was heißen soll: Ich habe mich sehr bemüht, die Dinge um mich herum zu verstehen. Wollte dann aber über den dokumentarischen Ansatz hinaus eine Geschichte erzählen. Dabei habe ich alle Möglichkeiten im Genre und im Medium Buch ausgenutzt, um das so eindrucksvoll wie möglich zu machen.

del Buono: Zweierlei Augen können dieses Buch lesen. Diejenigen, die dabei waren und alle anderen. Die Texte sind ins Englische übersetzt, es soll also auch für ausländische Betrachter und Leser sein. Gibt es zwei Lesarten? Eine für die Insider, denen die „Tödliche Doris“ quasi eine alte Verwandte (genau genommen drei alte Verwandte) ist, und eine für jene, die ein vages Bild von dem haben, was immer das Lebensgefühl des Vorwende-Berlins genannt wird?

Leuner: Ja, sicherlich. Gute künstlerische Fotografie hat zwei Ebenen. Die eine ist die informative Sachfotografie, Dokument, Auslöser von Erinnerungen. Die zweite Ebene ist die Kunst-Ebene, in der über Menschen, die Gefühle, Selbstdarstellung und Ereignisse Fantasien möglich sind, die unabhängig und abgekoppelt vom Zeitgeschehen sind und ein Eigenleben beginnen. Diese zweite Ebene richtig zu erkenne, setzt aber voraus, dass man die Zeit, in der fotografiert wurde, ausblendet.
Das Buch ist sehr deutsch und zeigt in einer gewissen Härte auch die ideologische und psychische Zerrissenheit – es ist doch die Geschichte eine Minderheit, die in extremen Gegensatz zur Mehrheit steht. Diese Mehrheit wird ja überwiegend von dem alten Deutschland repräsentiert. Ich finde, das ist in einer Gesellschaft so krass nicht normal. Es war in einer gewissen Form ein Ausnahmezustand. Vielleicht kann man es als einen Teil eines Umbruchs begreifen, der die deutsche Gesellschaft langsam wieder in die zivilisatorische Gemeinschaft Mitteleuropas zurückführte. In der Art waren diese Umwälzungen nur in Deutschland möglich und vielleicht noch in Italien.
Mir war es wichtig, so negative Gefühle wie Hass, Empörung und Depression zu zeigen, wie auch Extase oder Quatsch.

del Buono: Was mich irritiert, ist das Titelbild: Warum ein Bild von Jugendlichen mit verzerrten Mündern, bei denen man im ersten Moment nicht weiß, ob sie der rechten Szene oder dem betrunkenen Fußballproletariat zuzurechnen sind? Warum nicht ein Foto aus einer Wohngemeinschaft, wo doch der Kern des Buches die Kreuzberger Linke ist?

Leuner: Genau das wollte ich eben nicht. Das Umschlagsbild zeigt die Deutschlandfahne (unten), die von Hertha-Hooligens auf dem Ku´Damm bei einem Marsch nach einem Spiel geschwenkt wird. Es ist das letzte Bild, dass ich für das Buch überhaupt fotografiert habe und gehört zu dem Teil der Mehrheit. Es war einer der Adventssonnabend im Jahre 1985. Die Horde kam über den Ku´Damm bei der Gedächniskirche. Wegen der eisigen Kälte hätte ich nur eine Fotoschuss, mehr konnten die Blitzakkus nicht hergeben.Ich habe mich mitten auf die Straße vor die Truppe gestellt und sie auf mich zulaufen lassen. Wegen des Weitwinkelobjektivs musste ich lange warten, bis unten im Bild die Deutschlandfahne hereinwehte. Der Blitz war sehr auffällig und ich war von den Typen sofort umringt. Der, der so grimmig schaut, ist sofort auf mich zu gegangen und hat mich gepackt. Nur den neben den Block herlaufenden Polizisten habe ich es zu verdanken, dass ich da so rausgekommen bin.
Danach hab ich die Kamera weggelegt, das war das Ende der fast dreijährigen Reise über die Etage, die Musikszene und die Treffen mit der Mehrheit auf ihren netten Festen.

del Buono: Das Buch ist in vier Teile gegliedert- Im Prolog 1981 wird die Politisierung der Zeit gezeigt, In der Fabriketage die Wohnkonzepte, Vom K.O.B bis Loft die Musikszene und den Schluss bildet Die Mehrheit, die den sehr subjektiven Blick einer eingeschworenen Gemeinde auf die Anderen, die Masse, die „hässlichen Deutschen“ zeigt. Hast Du teilgenommen an diesem Leben oder es immer nur dokumentiert? Sprich: War es Deine Demo, Deine WG, Dein Musikstil, Dein Blick auf die Mehrheit?

Leuner: Nein- dieses Buch und die Vorkommnisse sind nur zum Teil autobiografisch. Ich war zu jung für 68 und zu alt für die Hausbesetzerbewegung. 1981 war ich Referendar beim Kammergericht Berlin und dann Personalratsvorsitzender der Gerichtsreferendare. Ich bin manchmal mit den linken Anwälten zu Rechtsberatungen in die besetzten Häuser gegangen oder habe bei der Vorbereitung von Strafverteidigungen mitgeholfen. Aber ich habe mich doch etwas fremd gefühlt – eigentlich die beste Voraussetzung für einen Chronisten, der die Dinge mit der notwendigen Genauigkeit zeigen will.
In der Fabriketage habe ich gelebt und auch sehr viel für mich gelernt, wobei mir klar war, dass das nur eine Episode ist. Die Musikszene war für mich völlig fremd. Ich bin mit klassischer Musik groß geworden, mit der Popmusik konnte ich nicht viel anfangen. Elektrisiert hat mich dann die Punk-Musik, die ich über die Hausbesetzerdemos mitbekommen habe. Den Musikteil habe ich nach der Etage fotografiert und bin ca. über ein Jahr in unendlich viele Veranstaltungen im K.o.B, Loft, SO 36 u.s.w.gegangen. Zwei,drei Monate habe ich gebraucht, um die Bands, Publikum und Stile auseinander halten zu können. Manche Veranstaltungen wie das Atonal-Festival waren völlig schrill.In den 90er Jahren habe ich erst verstanden, dass aus dieser Bewegung die Techno-Leute hergekommen sind, wie zum Beispiel West-Bam. Was ich dann schon wieder sehr eindruckvoll fand.
Ich habe ein gutes Bild-Rythmusgefühl, so dass man den Eindruck hat, ich wäre ganz nah an der Musik.
Sonst erinnere ich mich noch an die langen Abende mit den Kameras, die schwierigen Lichtverhältnisse, das lange warten und die vielen Male, wo nichts los war – also Arbeit als Fotograf. Die Mehrheit war dann nur noch recherchieren und laufen, wobei ich in viele skurrile Situationen gekommen bin. Dieser Teil war eigentlich der abenteuerlichste, weil er mir am fremdesten war. Wenn bei solchen Projekten das Konzept funtkioniert, heißte es eigentlich nur noch fleißig sein. Das ist dann eben richtige Knochenarbeit.

del Buono: Bei einer klassischen Foto-Reportage wird eine Story durcherzählt. In deinem Buch gibt es nicht die eine Geschichte; die Bilder sind Einzelbilder, Momentaufnahmen, Schnappschüsse. Können einzelne, voneinander unabhängige Bilder trotzdem eine Geschichte erzählen und wenn ja, welche?

Leuner: Es ist keine klassische Foto-Reportage. Das ist richtig. Es ist kein Kunstbuch, das ist auch richtig.
Ich wollte die Stilmittel der Reportage verwenden und zeigen, dass man mit Fotografie mehr darstellen kann, als eine lineare Geschichte. Ich bin der ganz festen Überzeugung, dass die Fotografie im Buch als Medium noch längst nicht ausgereizt ist.
Mein Ehrgeiz war es, eine Weltanschauung, also die Darstellung komplizierter Ereignisse in Bildfolgen zu zeigen. Z.B bei der Musikszene habe ich mein Bildmaterial zu einem langen, fiktiven Konzert zusammengeschnitten; also ganz typische Situationen: das Warten auf den Begin, die Blicke, dann der Start, die Wiederholungen, die Pause, und dann noch die unterschiedlichen Musikszenen, Publikumsverhalten.
Dieser Teil soll sozusagen die kulturelle Identität dieser Minderheit zeigen, die in solchen WGs wohnte.

del Buono: Diese Arbeit ist der erste Teil einer Trilogie. Zwei Teile hast du schon fotografiert, der dritte ist für 2005 geplant. Jeweils ein Jahrzehnt trennt die Arbeiten voneinander.
Im ersten Teil hast du dich der Szene in Kreuzberg angenommen, die zweite Arbeit ist in Mitte entstanden. Wo wird die dritte sein und gibt es ein verbindendes Element zwischen den Dreien?

Leuner: Dem Bezirk „Gala“. Also diesem Prommiblättchen, werde ich folgen. Mal sehen, wohin mich das treibt.

del Buono: Die Arbeiten haben unterschiedliche fotografische Stile. Ist das Teil des Konzepts oder haben sich im Laufe der Zeit deine Vorlieben für Format, Farbe, Objektive etc. geändert? Durch das Weitwinkelobjektiv schaffst du eine Verzerrung und Nähe, die teilweise grausam wirkt – du hast das bei der Mehrheit verwendet. Würdest du heute noch immer mit einem 24-mm-Objektiv arbeiten?
Leuner: Für mich gibt es eine Identität als Künstler. Meine Identität wird aber nicht durch den von mir angewandten fotografischen Stil bestimmt. Zu jedem Projekt entwerfe ich ein visuelles Konzept. Dieses Konzept war hier Klassische S/W Fotografie mit extrem hoch empfindlichen Filmen – also der in den 50er Jahren entwickelt existenzialistische, subjektive Stil der Off- und Straßenfotografie.
Bei jedem der Kapitel habe ich den Stil etwas geändert. In der Etage habe ich meist eine klein Minox 36 EL benutzt. Bei der Musik zwei Pentax-Spiegelreflex. Die eine mit sehr lichtstarkem Objektiv und die andere mit sehr gedämpften Blitz, wobei ich jeweils einen anderen Film nehmen musste, um die Grauwerte anzugleichen. Bei der Mehrheit wieder mit einer neuen Kamera mit Motor und zwei Blitzen, die synchron geschaltet waren. Daher kommt auch das Plastische der Bilder.

del Buono: Nicht nur Berlin hat sich verändert in den letzten 20 Jahren. Du sicherlich auch. Ist dein Blick versöhnlicher geworden, gnädiger? Oder kühler? Und wie erkennt man das in deiner Fotografie?
Leuner: Das Älterwerden ist für mich eigentlich eine ganz praktische Angelegenheit. Das Spektrum meiner Möglichkeiten hat sich erweitert. Gute Portrait-Fotografie, die mehr ist als ein subjektives Spiegelbild von einem Selbst, kann man erst mit einem gewissen Alter fotografieren. Das ist genauso, wie bei der Schriftstellerei beim Schreiben von Romanen.
Die Beobachtungsfähigkeit und das Verständnis dafür, was in der Realität passiert, wächst mit dem Alter.
Gerade in meinen frühen Fotografien habe ich mich immer wieder geärgert, dass die Bilder zu ähnlich wurden und ich manche Themen eigentlich nicht fotografieren konnte.
Ich habe jetzt ein Portrait-Projekt über die Ost-Deutsche Intelligenz zusammen mit dem Literaturforum im Brecht-Haus in Berlin Mitte gemacht. In dem Tempo und in der Souveränität wie ich dort fotografiert habe, hätte ich das früher nicht gekonnt. Auf der anderen Seite ist meine „kühle" theatralisierende Chronistensicht geblieben. Ob Volker Braun oder einer der anderen Portraitierten, keiner wollte für sich einen Abzug von mir für den PR oder privaten Bereich haben.
Der Blick ist also geblieben, wobei ich mir eigentlich einen versöhnlicheren Blick wünsche. Man möchte natürlich auch ganz gerne als Fotograf geliebt und nicht nur als kontrovers und sperrig gehandelt werden.
Berlin, den 16.September 2003

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